Die Besiedlungsgeschichte einer Mikroregion an der unteren Donau (Neolithikum bis frühe Neuzeit)

Referenten: Dr. Sven Conrad und Raiko Krauß, M.A., Leipzig/ Humboldt Universität Berlin

Montag, den 12. Januar 2004

Einführung

Seit 1958 wurden im spätantiken Limeskastell Iatrus an der unteren Donau (beim Dorf Krivina an der Jantra-Mündung, Bulgarien) deutsch-bulgarische Ausgrabungen durchgeführt. Etwa zur gleichen Zeit begannen polnisch-bulgarische Ausgrabungen im ca. 15 km donauaufwärts gelegenen Legionslager Novae. Die langjährigen Forschungen in den beiden Limesanlagen führten zu grundlegenden Erkenntnissen über den römischen Limes an der unteren Donau.

Mit dem Beginn einer neuen Grabungsperiode im Jahre 1992 ergab sich durch die veränderten politischen Rahmenbedingungen erstmals die Option auf Forschungen außerhalb des unmittelbaren Kastellgeländes. Zuvor war man bezüglich der Struktur des Kastellumfelds im wesentlichen auf die unvollständigen Angaben in älteren Publikationen angewiesen. Damit war es unmöglich, die detailliert herausgearbeiteten Baugeschichten von Iatrus und Novae in eine allgemeine Siedlungsgeschichte einzubinden; viele Aspekte der Geschichte dieser Lager konnten damit zwar beschrieben werden, blieben aber in der Interpretation hypothetisch.

In einem zwischen 1997 und 2001 von der DFG im Normalverfahren geförderten Projekt wurden im Umfeld der beiden Limesbefestigungen Iatrus und Novae an der unteren Donau interdisziplinäre Prospektionen durchgeführt, die neben Feldbegehungen und Luftbildpropektionen auch geophysikalische, palynologische und bodenkundliche Untersuchungen beinhalteten. Insgesamt wurde ein Gebiet von ca. 1200 km2 erfasst, wobei auch das linke Donauufer in die Untersuchungen einbezogen wurde. Derzeit wird die Publikation der Ergebnisse vorbereitet.

Bereits die ersten Prospektionskampagnen ließen erkennen, dass der steinfreie Lössboden des Arbeitsgebiets sehr günstige Fundbedingungen bietet. Die zahlreichen Funde aus allen Perioden ließen den Entschluss reifen, auch die prähistorische Epoche in die Untersuchung mit einzubeziehen. Insgesamt wurden 658 Fundstellen registriert:

       Gesamt      %      Tumuli      %  Siedlungen, Befestigungen, Nekropolen      %Technische Fundplätze (Straßen, Brücken etc.)
vor 1997  29745206819124
1997-2001  3615548192877626
Gesamt65810025410037810026

Nur 19 % der Tumuli, aber 76 % der im weiteren Sinne als Siedlungsstellen zu bezeichnenden Fundstellen sind als Neufunde registriert worden. An zahlreichen Siedlungsstellen wurde zudem eine mehrphasige Besiedlung festgestellt.

Die prähistorische Epoche in Nordbulgarien

Entsprechend dem Forschungsstand lässt sich die prähistorische Kulturgeschichte des bulgarischen Donautieflandes, einer über weite Strecken der Urgeschichte bedeutsamen Region, bereits weitgehend differenziert darlegen. Der historische Querschnitt der Kulturentwicklung offenbart den großen Erkenntnisvorsprung der Forschungen zum Spätpaläolithikum gegenüber den anderen altsteinzeitlichen Epochen. Über das definitive Ende des Paläolithikums und den Übergang zu den frühesten Ackerbaukulturen ist immer noch sehr wenig bekannt, und gerade die neuen Erkenntnisse über die augenscheinliche Gleichzeitigkeit der Lepenski Vir-Funde mit dem frühesten Neolithikum in der Region zeigen, wie groß unsere Unkenntnis über diesen Zeitabschnitt noch immer ist. Bezüglich der frühesten Ausprägung neolithischer Keramik in Nordbulgarien müssen die theoretischen Überlegungen zu einer rein monochromkeramischen Phase, noch vor der traditionell als frühesten Erscheinung angesehenen weißbemalten Fazies, angesichts aktueller Funde aus dem Einzugsgebiet der Jantra neu überdacht werden. Die Erörterung der frühneolithischen Siedlung von Koprivec und die Vorlage von weiteren, bisher unpublizierten Grabungsfunden offenbart auch für diese Fundstelle das gemeinsame Auftreten von monochromer und weißbemalter Keramik und bestärkt ganz erheblich die Argumente der Gegner eines „monochromen“ Neolithikums, da nun zumindest diese eine – von den Befürwortern stets als beispielhaft für Nordbulgarien angeführte – Fundstelle ausfällt. Analog zu den angrenzenden Landesteilen lässt sich die Kulturentwicklung der anschließenden Zeiträume bis zum Ende des Äneolithikums dank umfangreicher Funde auch vom Unterlauf der Jantra detailliert darstellen. Auch für den kulturgeschichtlichen Wandel am Ende des Äneolithikums konnte die bulgarische Forschung in den letzten Jahren bedeutende Erkenntnisse beitragen.

In der Frühbronzezeit stellt sich der nordbulgarische Fundstoff äußerst heterogen dar, was einen umfassenden Blick auf die benachbarten Großräume unabdingbar macht, da diese sämtlich besser erforscht sind. Von überregionaler Bedeutung für die Frühbronzezeit ist im Arbeitsgebiet das Gräberfeld von Batin.

Eine genauere Untersuchung erforderte der Übergang von der frühen zur späten Bronzezeit, da eine eigentliche Mittelbronzezeit in Nordbulgarien bislang unbekannt ist. Auffällig ist zunächst die weitgehend kontinuierliche Entwicklung der Metallformen, die äußerst zahlreich in der Region gefunden wurden, was wiederum eine fortdauernde Besiedlung voraussetzt. Der weiträumige formenkundliche Vergleich ermöglicht zwar eine bedeutende Annäherung beider Komplexe, wenngleich eine unmittelbare zeitliche Berührung nicht begründet werden kann. Eine methodische Lösung der Probleme am Übergang von der frühen zur späten Bronzezeit kann darum nur in der gezielten Ausgrabung eines Fundplatzes zu suchen sein, der dieses Zeitintervall überbrückt. Die weitere Entwicklung der Spätbronze- und Hallstattzeit ist bereits seit längerem vergleichsweise gut erforscht und konnte durch neue Funde belegt werden.

Vor dem Hintergrund der allgemeinen Kulturentwicklung kann durch die von 1997 bis 2001 durchgeführten Prospektionen eines geschlossenen Kleinraumes in Nordbulgarien nun erstmals gezeigt werden, wie sich die Besiedlung innerhalb der verschiedenen Epochen organisiert und verändert hat. Zusätzlich zur Registrierung der Fundstellen im Gelände wurden einige Siedlungsplätze gezielt mit verschiedenen Methoden der Feinprospektion untersucht, wodurch über die allgemeine Besiedlungsstruktur hinaus auch exemplarisch die innere Entwicklung der Siedlungen selbst erhellt werden konnte.

Die siedlungsgeographische Auswertung des Fundstoffes bestätigt die allgemeine Kulturentwicklung des nordbulgarischen Donautieflandes, indem die generelle Tendenz eines Siedlungsausbaus vom Neolithikum bis zur Hallstattzeit nur durch eine gravierende Zäsur während der Frühbronzezeit unterbrochen wird. Betrachtet man die Besiedlungsfaktoren im Einzelnen, zeigt sich, dass dieser „Einbruch“ in einer grundlegend von den übrigen Epochen verschiedenen Siedlungsstruktur begründet ist und damit nicht allein demographisch, im Sinne eines Bevölkerungsrückgangs, interpretiert werden kann. Die spezifischen Besiedlungsmuster zeichnen sich im Grunde genommen mit zunehmender Fundstellenzahl zu den jüngeren Perioden hin immer deutlicher ab.

Ausgesprochen dünn stellt sich die neolithische Besiedlung am Unterlauf der Jantra dar, die sich zudem recht ungleichmäßig über das Untersuchungsgebiet verteilt. Auffällig ist eine Konzentration der Fundstellen im Südosten des Arbeitsgebietes, bei sonst sehr weit auseinander liegenden Fundpunkten. Auf der anderen Seite ist das Fundmaterial von den wenigen Plätzen überaus umfangreich und lässt eine hohe Bevölkerungskonzentration auf engem Raum oder lange Lebensdauer der wenigen Siedlungen vermuten. Bei einem Vergleich der neolithischen und äneolithischen Besiedlung ist eine grundsätzliche Beibehaltung des besiedelten Raumes und der allgemeinen Siedlungslage festzustellen, was sich bereits in der Formtradition des Fundstoffes äußert und nun auch im Besiedlungsmuster seine Bestätigung findet.

Eine wichtige Erkenntnis für das äneolithische Besiedlungsbild ist der Nachweis von zahlreichen kleineren Siedlungsplätzen neben den großen Tellsiedlungen, die bislang als der eigentliche und einzige Siedlungstyp dieser Zeit in Nordbulgarien angesehen wurden. Eklatant ist dann der Bruch der frühbronzezeitlichen zur äneolithischen Besiedlung, die sich in beinahe allen Faktoren voneinander unterscheiden. Die Auswertung des Besiedlungsmusters legt nahe, dass der frühbronzezeitlichen Besiedlung eine grundsätzlich andere Organisation als allen übrigen Perioden zugrunde liegt, die durch eine veränderte Wirtschaftsform bedingt ist. Wenn wir für die Perioden vor und nach der Frühbronzezeit vom Ackerbau als primärer Subsistenzquelle ausgehen, worauf alle Besiedlungsfaktoren und vor allem die Bodenauswahl hindeuten, so möchte man für die Frühbronzezeit eine verstärkte Viehzucht annehmen. Bestärkt wird diese Annahme durch die paläobotanischen Untersuchungen, die im Verlauf des Subboreals eine deutliche Abkühlung des Klimas mit zunehmender Trockenheit und einer folgenden Versteppung der Landschaft nachweisen konnten. Der Rückgang des Ackerbaues bei zunehmender Viehzucht ist somit als flexible Reaktion der menschlichen Gemeinschaften auf den sich wandelnden Naturraum zu verstehen. Ungeachtet einer klaren Unterschiedlichkeit auch der spätbronzezeitlichen im Vergleich zur frühbronzezeitlichen Siedlungsstruktur besteht offenbar dennoch in einigen Kleinräumen eine fortlaufende Besiedlung. Prinzipiell kann aufgezeigt werden, dass sich die Besiedlung im Laufe der Spätbronzezeit grundsätzlich neu organisiert und nun erstmals auch klare Abstufungen der einzelnen Siedlungen innerhalb ganzer Siedlungskammern erkennen lässt.

Für die Hallstattzeit ist eine verstärkte Zusammenballung von Siedlungen in Kleinräumen charakteristisch. Markant zeichnen sich nun auch innerhalb der einzelnen Siedlungskammern „zentrale Orte“ ab, die auf herausragenden Geländemarken liegen und ein Wegenetz markieren, das in den Grundzügen bereits die heutigen Verkehrswege vorzeichnet.

Die historische Epoche (späte Hallstattzeit bis frühe Neuzeit)

Mit der späten Hallstatt- bzw. frühen Latènezeit tritt das Arbeitsgebiet in die historische Epoche ein. Allerdings sind auf der Grundlage der zunächst recht spärlichen schriftlichen Quellen kaum Rückschlüsse auf die historische und gesellschaftliche Entwicklung zwischen Donau und Balkan möglich. Die Lücke kann hier nur durch die archäologische Forschung geschlossen werden.

Das verdichtete Siedlungssystem der späteren Eisenzeit zeigt gegenüber der frühen Hallstattzeit eine kontinuierliche Fortentwicklung und ist durch befestigte und exponierte Zentralorte (Bjala, Sviëtov) gekennzeichnet, die z.T. bereits in der Hallstattzeit bestanden haben und als thrakische Stammes- oder Kultzentren zu interpretieren sein werden. Um diese Zentren gruppieren sich nicht nur Tumuli-Nekropolen, sondern zahlreiche kleine, meist wohl ephemere Siedlungen.

Dieses System wird in der Kaiserzeit durch ein weiträumiges, durch ländliche Villen und dörfliche Siedlungen (vici) bestimmtes Siedlungsbild abgelöst. Es ist durch das eigenständige System der Limesbefestigungen beeinflusst, für deren unmittelbares Umfeld weitere Erkenntnisse, beispielsweise über die zu den Kastellen gehörenden Zivilsiedlungen, gewonnen werden konnten. Außerdem fanden wir einige Abschnitte der die Donau begleitenden Limesstraße.

Für den Westteil des Arbeitsgebiets, wo eine zentrale Planung in der Landaufteilung besonders gut zu erkennen ist, wurde die Größe der Landparzellen versuchsweise bestimmt. Gegenüber der vorrömischen Eisenzeit zeigen die siedlungsgeographischen Faktoren eine stärkere Orientierung auf günstige Siedlungsplätze und damit eine dauerhafte Anlage der Siedlungen. Davon abweichend gehen die suburbanen Villen um das Legionslager Novae auf den besonderen Rechtsstatus des Militärterritoriums zurück und sind mit der Versorgung der Veteranen nach ihrem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst in Verbindung zu bringen.

Die Prospektionen lieferten keine direkten Anhaltspunkte für den Übergang von der Spätlatène- zur römischen Zeit, da die Keramik keine Feindatierung zulässt. Die kontinuierliche Aufsiedlung des Gebietes scheint an den meisten Stellen im Laufe des 2. Jh. einzusetzen. Grundsätzlich lässt sich eine Siedlungskontinuität von der mittleren Kaiserzeit bis in die Spätantike feststellen, auch wenn die Intensität der Besiedlung an einzelnen Fundstellen abzunehmen scheint. Die Keramikfunde sprechen generell für ein Ende der Besiedlung im ländlichen Raum und einen Rückzug in die Befestigungsanlagen oder deren unmittelbares Umfeld spätestens im ausgehenden 4. Jh., was mit den Goteneinfällen im Zuge des 2. Gotenkrieges und den nachfolgenden Hunnenzügen in Verbindung gebracht werden kann. Dieser Befund korrespondiert mit den Grabungsergebnissen im Kastell Iatrus, wo ab der Wende vom 4. zum 5. Jh. eine Verdichtung der Bebauung und eine Veränderung der rein militärischen Struktur hin zu einer militärisch-zivilen Mischform festzustellen ist.

Während der frühbyzantinischen Periode (Ende des 5. – ca. Ende des 6. Jh.) konzentriert sich die Besiedlung dann fast ausschließlich auf die Befestigungsanlagen und deren unmittelbaren Umkreis. Insgesamt ist für diesen Zeitraum mit einem deutlichen Bevölkerungsrückgang zu rechnen.

In der frühmittelalterlichen Periode (7.-10. Jh.) werden viele der alten Siedlungsstellen, darunter auch die zumindest teilweise zerstörten Limeskastelle, durch die neuen Siedler – Slawen und Protobulgaren –  wieder aufgesucht. Dies ist insofern interessant, als teilweise  ein Hiatus von mindestens 200 Jahren anzunehmen ist. Es konnte ein dichtes Siedlungsbild ohne charakteristische Strukturen ermittelt werden, welches die Veränderung der sozialen und ethnischen Verhältnisse in der ehemaligen römischen Provinz widerspiegelt. Zahlreiche kleine, häufig durch ungünstige siedlungsgeographische Faktoren charakterisierte und deshalb als ephemer einzustufende Siedlungsplätze besitzen keine erkennbare Orientierung zu einer Reihe von z.T. befestigten Hauptorten. Die fehlende Strukturierung des Siedlungssystems ist wahrscheinlich mit einer halbnomadischen Lebensweise zur erklären. Dies lässt sich jedoch im Vergleich zu anderen Regionen und an Hand der wissenschaftlichen Literatur kaum nachvollziehen, da sich die archäologische Forschung bislang fast ausschließlich auf größere Siedlungen und Befestigungsanlagen konzentriert hat.

Den mit dem Ende des 1. Bulgarischen Reiches (Ende 10. Jh.) und den Petschenegen-Einfällen in Verbindung stehenden erneuten Rückgang der Besiedlung können wir an Hand der Prospektionsergebnisse deutlich nachweisen; es kam zur endgültigen Auflösung des alten – d.h. teilweise noch stark römisch geprägten – Siedlungsnetzes. Das heutige, moderne Siedlungssystem mit einer Konzentration auf relativ wenige, gut erschlossene und siedlungsgünstige Räume hat sich im wesentlichen erst während des Spätmittelalters (2. Bulgarisches Reich 12.-14. Jh.) und vor allem unter der nachfolgenden Türkenherrschaft herausgebildet.